Zu müde, um zu funktionieren

Schule ist mir nie besonders schwergefallen, aber im letzten Jahr meiner mittleren Reife hat mich dann eine mysteriöse Müdigkeit gepackt.
Damals wohnte mein erster Freund bei mir und er versuchte Verständnis für mich zu haben, schließlich war ich bereits um 5 Uhr wach und erst gegen 15 Uhr wieder zuhause, trotzdem merkte man sein Unmut darüber, dass er mich nur noch als Dornrösschen kannte.
Manchmal zwang ich mich, wach zu bleiben, doch ich merkte, dass ich dafür jeden Fünkchen Energie brauchte. Dieser Mittagsschlaf, der über 4 Stunden ging, war lebensnotwendig, denn zu dem Zeitpunkt fing ich an, abends als Coverdesignerin zu arbeiten.
Diese Müdigkeit kam und ging, wie es ihr beliebte, im Nachhinein wünschte ich mir, ich wäre aufmerksamer Gewesen und hätte diesen Zyklus protokolliert, um zu sehen, wie lange so eine Phase anhielt.
Manchmal redete ich mit meiner Ärztin über meine Müdigkeit und sie verschrieb mir mehr Bewegung, zu dem Zeitpunkt hatte ich mit dem Abitur angefangen und steckte Nebenbei in der Selbständigkeit. Wenn ich nicht schlief war ich entweder in der Schule oder am Rechner. Da erschien er mir logisch, meine Müdigkeit auf die mangelnde Bewegung zu schieben – schließlich hatte ich auch 20 Kilo zugelegt, seitdem ich aus der Realschule draußen war.

Nach dem Abitur stürzte ich mich in die volle Selbständigkeit – all or nothing! Nach nur wenigen Wochen war diese andauernde Trägheit so groß geworden, dass ich kaum noch arbeiten konnte. Ich schlief 6 Stunden am Tag, um 4 zu arbeiten und dann todmüde wieder ins Bett zu fallen. Morgens ging ich joggen, um den Körper in Bewegung zu bringe – danach war ich immer so fertig, dass ich ein kleines Nickerchen zwischen Joggen und Arbeit machen musste.
Ich machte mir ernsthafte Sorgen, da ich mein Arbeitspensum kaum schaffte. Das Schlimmste war aber meine Vergesslichkeit. Mir entfielen Dinge, direkt nachdem sie mir gesagt wurden. Ich vergaß, andauernd den Herd auszumachen oder wichtige Rückrufe zu tätigen.
Bei dem nächsten Besuch bei meiner Ärztin teilte sie mir mit, dass ich verwirrt wirke, was wohl daran lag, dass ich regelrechte Wortfindungsstörungen hatte.
Langsam viel auch meinen Autoren auf, dass etwas nicht stimmte, ich konnte die wenigsten Sachen bei mir behalten, meistens versuchte ich, es mir aufzuschreiben aber manchmal vergaß ich sogar das. Es fühlte sich an, als würde mich mein eigens Gehirn gefangen halten und jede Sekunde tausende von Informationen schreddern.
Meine Ärztin verordnete einige Untersuchungen, darunter auch mein Blutdruck und ein Blutbild. Der Blutdruck war etwas zu niedrig, obwohl ich ein hohes Übergewicht hatte, das Blutbild ergab: Schilddrüsenunterfunktion und ein leichter Vitamin D Mangel. Sie verschrieb mir ein Schilddrüsen Medikament, ein Vitamin D Präparat und eine knackige Bräune.
Gut! Also nicht „gut“ aber zumindest ein Hinweis darauf, was mit mir nicht stimmen könnte.
Mit den Medikamenten ging es mir anfänglich etwas besser, wobei ich es im Nachhinein eher auf ein Placebo-Effekt schieben würde.
Wenig später saß ich nämlich wieder bei ihr und klagte das alte Leid. An dem Tag – ich erinnere mich genau – hatte sie eine Praktikantin bei sich. Sie setzten mich hin und stellten mir verschiedene Fragen: Ob ich aktuell gerne ausgehe, ob ich Lust auf Freunde hätte, ob ich mich heftigen Emotionsschüben zu kämpfen hätte usw.

Eine magische Pille

Sie verschrieb mir Citalopram – ein Antidepressivum. Das Medikament ist ein sogenannter Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, in anderen Worten: Es erhöht die Konzentration von Serotonin im Gehirn. Serotonin ist ein Hormon, dass für unsere Stimmung und Antrieb wichtig ist.
Joa, also Depression? Aber ich fühlte mich nicht traurig, ich hatten auch keine negativen Gedankenspiralen und mein Selbstbild hatte sich jetzt auch nicht drastisch verändert. Um ehrlich zu sein war ich nur extrem müde und vergesslich.

Drei Tage nachdem ich angefangen hatte, dass Medikament zu nehmen, fühlte ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen.
Die Nebenwirkungen waren für mich überschaubar: Appetitlosigkeit – was als schwer übergewichtige Frau nicht so schlecht ist, fehlende Libido – wer braucht schon Sex, wenn er arbeiten kann? Und manchmal hatte ich Herzrasen – auch nicht so schlimm, mein Blutdruck ist so wie so etwas niedrig.
In den ersten Monaten nach der Einnahme des Medikaments wurde mir erst bewusst, welche anderen Symptome die Depression still und heimlich in mein Leben gebracht hatte. Ich war nicht nur müde, sondern komplett antisozial geworden, meine Begeisterung für Projekte hielt sich in Grenzen und meine Sprunghaftigkeit in Bezug auf Entscheidungen war rekordverdächtig.

In dem kommenden Jahr nahm ich brav die Tabletten und zog von zuhause aus. Ich löste mich vom Arbeitsamt und machte mich komplett selbständig und schaffte mir eine Katze an.
Endlich ging es wieder bergauf und ich freute mich auf geplante Projekte. Ich wollte mein Geschäft ausbauen, bloggen, bis mir die Hände abfallen, Videos drehen und endlich diesen verdammten Roman schreiben.

Hätte ich zu dem Zeitpunkt gewusst, was mich noch erwartete, hätte ich mich in meinem Schrank eingeschlossen und wäre nach Narnia geflüchtet.

Hello darkness my old friend

Wenige Monate nachdem ich eingezogen war, kam die Müdigkeit zurück, nicht so hart und auch nicht so drastisch wie früher, aber langsam schlich sie sich wieder in mein Alltag und machte es sich gemütlich.
Ich habe so viele Videos und Beiträge über das Thema Depression gesehen und gelesen, dass ich glaubte, niemals von ihr überrascht zu werden.
Der Ausdruck „Niemand kann eine Depression verstehen, wenn er sie noch nie hatte“, kam mir immer so redundant und arrogant vor, als wären alle Depressiven in diesem Club, indem sie sich in ihrem Leid suhlen.
Jetzt sitze ich hier und muss meine Meinung revidieren. Weil ich als gesunder Mensch nicht in der Lage war, zu begreifen, was eine Depression wirklich bedeutet.
Ich lernte auf die harte Tour, dass es neben Gefühlen und Emotionen auch noch einen Daseinszustand gab, den ich vorher nie bemerkt hatte.
Ich möchte behaupten, dass ich fast mein Leben lang auf einer positiven Seite dieses Daseinszustandes war, während der depressiven Phasen wendete sich mein Zustand um 180 Grad.
Ich hatte kaum Energie, um aus dem Bett zu kommen, ich habe fast alles vergessen, konnte mich nicht konzentrieren – an einem Punkt habe ich eine E-Mail mit dem Namen einer Kundin anstelle von meinem unterschrieben.
Witzigerweise war mir meine Arbeit und mein Wohlbefinden egal. Du kannst etwas Lieben oder etwas Hassen aber wenn dir etwas egal wird, hast du es verloren.
Meine Gefühle waren wie weggesperrt, unter einer kleinen Glaskuppel. Das einzige Gefühl, mit dem ich mich fast jeden Tag auseinandersetzen musste, war blanke Wut.
Als Kind hatte ich manchmal Probleme damit, meine Wut zu kanalisieren. Mich haben Dinge in solch einem Maß wütend gemacht, dass sie in keinem Verhältnis zum Auslöser standen. Und genau das passiert mir jetzt auch.
Der PC wollte nicht hochfahren, zack!, da hatte ich bereits den Schreibtisch umgeworfen – ja, genauso wie das berühmte Meme.
Erschreckend war, wie wenig Selbstreflexion ich besaß. Ich war mir manchmal gar nicht gewusst, dass ich mich in einem anderen Daseinszustand befand, einfach weil man den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann. Dort drin zu stecken bedeutet auch, die Knoten in meinem Kopf nicht lösen zu können, weil ICH ja das Gewirr war. Etwas gegen die Depression zu tun, war genauso schwer, wie ein Motor mit kaputtem Werkzeug zu reparieren.

Kontopfändung! Das ist immer was Schönes

Es gab drei Tiefpunkte, die mir langsam bewusst machten, dass ich etwas tun musste.
Der Erste war meine Gesundheit, die von allen Seiten Hiebe bekam. Ich hatte in meinem Leben vielleicht 6x die Grippe. In den letzten Monaten bin ich nur noch kränkelnd und hustend durch die Gegend gewandert, auch meine Migräne, die ich davor gut im Griff hatte, kam mich alle zwei Wochen besuchen. Ich habe in den letzten Monaten um die 30 Kilo zugenommen und wiege aktuell alarmierende 145 Kilo.

Der zweite Tiefpunkt war der Tod meiner Großmutter. Obwohl ich sie nicht gut kannte, hätte ich mir von meiner Psyche auf die Nachricht ihres Todes eine bessere Reaktion gewünscht, als absolute Gleichgültigkeit. Und das schloss auch die Beerdigung ein, auf die ich nicht gegangen bin, weil es mir a) egal war und b) ich zu dem Zeitpunkt niemanden sehen konnte – schon gar nicht eine Trauergemeinschaft. Zum Glück ist mein Vater ein Mensch, der nicht viel auf gesellschaftliche Konventionen gibt und mir am Telefon einfach offen und ehrlich gesagt hat, dass es okay ist, wenn ich nicht komme. Vielleicht war er auch ganz froh darüber, dass ich nicht da war, schließlich haben wir die Oma auch zu Lebzeiten nicht oft gesehen und es wäre heuchlerisch gewesen, da zu sein. Jetzt, wo ich etwas Zugänglicher bin, macht mich meine Entscheidung sehr traurig.

Der dritte Tiefpunkt war die Pfändung meines Kontos, die mich Mitte des Jahres erwartete. Wer andauernd krank ist und es den Rest der Zeit nicht aus dem Bett schafft, der geht unter. Nach wenigen Monaten hatte, und habe ich immer noch, hohe Schulden. Vor alledem die Krankenkasse und das Finanzamt klopften jede Woche an der Tür.
Leider bin ich zu dick, um irgendeine bezahlbare Versicherung zu bekommen, die meine Arbeitskraft absichert. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich im Büro meines Finanzberaters saß und er etwas betreten sagte, dass mich fast alle Versicherrungen abgewiesen hätten. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nie eine OP oder einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus, ich rauchte nicht, ich hatte keine chronischen Krankheiten – bis auf die Migräne, hatte einen gesunden Blutdruck und phänomenale Blutwerte. Dennoch war ich zu fett und das bedeutet im wahrsten Sinne des Wortes: Mein Gewicht schloss mich von jeder vernünftigen und bezahlbare Absicherung im Falle einer ernstzunehmenden Krankheit aus. So lob ich mir das!

Zum Glück gönnte mir die Depression eine winzige Pause und ich schaffte es, meine Energiereserven zu mobilisieren und die Schulden so weit zu tilgen, dass ich nach 5 Wochen wieder Zugriff auf mein Konto hatte und meine Katze nicht von Almosen leben musste. Danach war die Batterie tot und ich schlief mehrere Tage durch.

Morgens zwang ich mich mit Musik dazu, durch den Raum zu tanzen, um genug Motivation zu finden, um die Mahnungen zu bearbeiten und dringende Aufträge zu erledigen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits zahlreiche Kunden vergrault und bis heute lebe ich von einer Rechnung zur Nächsten.
An manchen Tagen packte mich ein Hochgefühl, dass mich tausend Projekte planen ließ, die nach 2 Tagen meinem Unmut zum Opfer fielen. Zumindest sind das keine schlechten Ideen und ich könnte auf sie zurückkommen, sobald es mir bessergeht.

Kein Happy End – aber dafür ein Leben

Währe das ein Roman, müsste jetzt nach dem Tiefpunkt, der Moment kommt, indem der Held sich zusammenreißt und eine noch nie dagewesene Kraft entdeckt, um das Böse zu besiegen. Aber die Realität ist, dass ich diese Kraft noch nicht gefunden habe – oder ich habe den tiefsten aller Tiefpunkte noch nicht erreicht, was mir Angst macht.

Eventuell ist das nicht die Hilfreichste aller Geschichten über Depressionen. Ich persönlich musste in den letzten Wochen viel Kämpfen, um mich wieder halbwegs normal zu fühlen. Aktuell arbeite ich daran, das Verhältnis zu meinen Autoren zu bessern, denn das ist einer der Dinge, die mir nach all diesen Jahren am meisten wehtut.
Ich selbst bin jemand, der viel und hart für seine Träume arbeiten musste und ich kann die Frustration meiner Autoren verstehen, wenn die Zusammenarbeit mit mir niederschmetternd ist.

„Bücher sind Herzenssache“, ist das Motto von Herzgezeiten und obwohl das in aller Ehrlichkeit der Grund war, weswegen ich als Coverdesignerin angefangen habe, weiß ich, dass ich nach all dieser Zeit einige Kerben in Herzensprojekte geschlagen habe. Und das tut mir leid.

Es macht mir Angst mich mitzuteilen, nicht nur meinen Freunden sondern auch meinen Kunden gegenüber, weil ich selber nicht weiß, was in mir vorgeht und ich mich schlecht mitteilen kann. An manchen Tagen geht es mir gut und an manchen schlecht. Diese Ungewissheit macht es mit so schwer zu planen, zu arbeiten aber auch zu reden. Einer der Ratschläge, die man immer und immer wieder bekommt, wenn es um mentale Gesundheit geht, ist, mit jemandem darüber zu sprechen. Aber ich weiß nicht einmal mit wem und worüber. Und wenn innerlich tatsächlich der Sturm wütet und einem über den Kopf das Haus abrennt, kann man sich nur selbst helfen.

Bis heute habe ich keine Ursache und auch keine Heilung für meine Depression gefunden und ich lerne, nach Jahren, ganz langsam damit umzugehen. Selbständig zu sein bedeutet nicht nur für sich zu arbeiten, sondern auch komplett autark für sich zu sorgen. Und manchmal ist Selbstsorge einfach das Schwerste von allen.

Heute arbeite ich daran, mich zu finden und zusammenzuflicken. Ich muss ein Sicherheitsnetz schaffen, damit ich nicht wieder so tief falle. Ich versuche, mir mit meinem kaputten Gehirn zu helfen, und das ist schwer, aber nicht unmöglich.